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RTF VOSSY: Romantische Heidestraße

Ein Blick aus dem Fenster: Zum ersten mal seit Tagen bedeckt. Ugh, wieso das denn? Das Thermometer zeigt 14 Grad. Ugh, ist ja auch noch nicht so dolle! Die Regenapp sagt: Schauer ab 13:00h. Ugh, bin ich da mit der 115 km Runde denn wohl schon durch? Leg dich lieber wieder hin! Leg dich lieber wieder hin! Ist doch bescheuert! Leg dich lieber...

 

Die Zweifel, ob ich denn das richtige tue oder mich geistig so langsam von der normalen Menschheit verabschiede, zerstreuen sich erst am S-Bahnsteig in Altona. Da wartet tatsächlich noch einer mit Rennrad auf die einfahrende S3. Bin nicht die einzige Bekloppte! Von wegen! An jeder Haltestelle steigen immer mehr Rennräder mit ihren Haltern zu. Bis wir in Neu Wulmstorf sind, sitzt kein Passagier mehr OHNE Rennrad in der Bahn. Also NUR noch Bekloppte – und irgendwie alle am jammern: Man habe viel zu wenig geschlafen, gestern Abend leider doch das zweite Weizen noch sacken lassen, die Woche war gar keine Zeit zum Warmrollen, eigentlich ist man noch nicht regeneriert von der letzten RTF und so weiter. Mimimi.

 

Anmelden muss man sich in einem Schulgebäude. Ich erhalte eine Rückennummer, 4 Sicherheitsnadeln und einen Stempelzettel. Darauf sind die vier Strecken (51/73/115/152km) mit allen Orten aufgelistet, in Reihenfolge wie man sie durchfährt. Da kommt man auch schon mal nach Knick! Oder Welle! Oder Ohlenbüttel – wollte ich doch immer schon mal hin!

 

Es bilden sich lange Schlangen - vor den Anmeldungstischen, vor den Toiletten, an der Frühstückstheke. Ich gönne mir im Stehen einen Kaffee und ein halbes Käsebrötchen. 550 Teilnehmer wuseln geschäftig durch die Gegend.

 

„Na, Du alter Sack, auch wieder dabei! Ach, du Scheiße!“ – Die übliche Begrüßungsformel unter Rennradfahrern, rund um mich höre ich eigentlich nix anderes mehr.

 

Die ersten Hektiker brechen auf Richtung Startblock. Was Besseres fällt mir auch nicht mehr ein. Da stehe ich nun, völlig konzentriert darauf, nicht wieder schon im Startblock umzukippen, weil ich bei all der Warterei vergesse, dass ich rechts schon eingeklickt bin (à Der Klassiker auf den Cyclassics 2017) Wir starten in Blöcken mit ungefähr 15-20 Fahrern. Das dauert natürlich. Es gibt für jeden Startblock eine kurze Ansprache bevor das Flatterband sich hebt: Bitte auf die beiden Baustellen achten, bitte die Verkehrsregeln einhalten und bitte heile wieder kommen. Gute Fahrt!

 

Bis zur ersten Kontrollstelle erwische ich eine gute Gruppe, man fährt das perfekte Tempo für mich. Nur einmal halte ich mich mehr bremsend zurück. Auf einem schmalen und kurvenreichen Weg am Deich liegen Teppiche aus langen frisch geschnittenen Grashalmen. Wahrscheinlich auf den Weg geweht. Ich bin unsicher, ob man bei guten 35 km/h scharf in die Kurve gelegt darauf nicht ins Rutschen kommt? Anscheinend bin ich die einzige, die sich darüber Gedanken macht. Zum Glück hole ich die Gruppe schnell wieder ein. Ich halte mich auf der letzten Position und gebe alle Handzeichen, die von vorne gegeben werden brav weiter, auch wenn hinter mir niemand fährt. Genau DAS wollte ich doch lernen: Handzeichen in der Gruppe.

 

Am ersten Kontrollpunkt gibt es farblich merkwürdig gesättigte Getränke, bereits eingeschenkt in Plastikbecher. Auch hier kommt man frühstückstechnisch nochmal voll auf seine Kosten. Und es gibt den ersten Stempel, damit man weiß, dass man nicht geschummelt und abgekürzt hat. Meine Anfangsgruppe hat sich zerstreut, ich hänge mich einfach an die nächsten, die wieder starten und lerne weiter neue Handzeichen.

 

Das Tempo ist mir irgendwann zu langsam. Ich überhole und versuche zur nächsten Gruppe aufzuschließen. Das kostet Kraft, gelingt aber nach 2 bis 3 km. Hier fährt man mein Tempo, ab und zu habe ich eher Mühe, den Anschluss nicht zu verlieren. Was im vorderen Feld vor sich geht, kann ich von ganz hinten nicht so genau überblicken. Wir nähern uns dem zweiten Kontrollpunkt, die Abzweigung der 73 km Runde liegt bereits hinter uns. Ich beschließe, gleich etwas länger Pause zu machen, da nun fest steht, dass ich die tatsächlich die 115 km fahre. Krafteinteilung also nicht ganz unwichtig – eine so lange Strecke bin ich noch nie am Stück gefahren!

 

Da gibt es aus heiterem Himmel Geschimpfe! Eine Mitfahrerin im Vorderfeld regt sich mächtig darüber auf, dass immer die gleichen Fahrer die Führung übernehmen müssten. Das fände sie äußerst unsportlich. Und es seien so viele Männer in der Gruppe, das wäre ja wohl ein Unding! Wo sie Recht hat, hat sie ja sicherlich Recht! Problem nur: Ich hab beim Fahren immer so ein fettes Grinsen im Gesicht. Das kann ich gar nicht so schnell beenden, wie auch ich im Hinterfeld mit angemotzt werde. Mein Gegrinse ist nun der Tropfen, der das Fass zum überlaufen bringt. Mein Gegrinse ist nun ja wohl das Unverschämteste überhaupt! Wo sie recht hat, hat sie ja nun wirklich recht.

 

Am Kontrollpunkt nutze ich die Gelegenheit, um der Dame mein unsportliches Verhalten zu erklären: Ist doch meine erste RTF! Gruppenfahren ist für mich noch ziemlich neu und hält sicherlich noch einiges an Lektionen bereit, bevor ich sicher die Führung einer Gruppe übernehmen mag. Hatte ich nach dieser Erklärung auf sowas wie Verständnis gehofft, bin ich allerdings total schief gewickelt! Verächtlich schnaubt man mich an und lässt mich stehen.

 

Völlig verdattert über dieses mir nicht weiter verständliche Verhalten setze ich nach der Pause alleine die Fahrt fort – macht ja auch voll Sinn, dafür nimmt man ja extra an einer RTF teil! Ich nähere mich von hinten einer Gruppe und versuche aufzuschließen. Oah nee, da fährt sie ja wieder, meine neue Freundin! Also lasse ich mich wieder zurück fallen und setze die Fahrt alleine fort.

 

So langsam brennt die Sonne vom Himmel. Ich fluche über meinen langärmligen Baselayer. Will man morgens nicht erfrieren, muss man mittags schwitzen! Selbstgemachte Leiden!

„Romantische Heidestrasse“ steht auf einem Schild! Irgendwer hat wohl gemeint, dass die zunehmende Hügelei hier eines solchen Titel gerecht wird! Kann nur ein Autofahrer gewesen sein! Pralle Sonne, steile Anstiege und brennende Oberschenkel – ach, wär ich heute morgen doch liegen geblieben! Zum Glück komme ich mit der Ausschilderung zu Recht. Die ist wirklich spitze, und ich stelle mir vor, wie viel Arbeit es machen muss, all diese kleinen orangenen Plastikpfeile auf der ganzen Strecke anzubringen. Ob die da wohl für immer hängen gelassen werden? Oder sammelt einer die nachher wieder ein - und hängt sie nächstes Jahr wieder auf?

 

Körperlich ziemlich am Ende erreiche ich den nächsten Kontrollpunkt. Es gibt extrem leckere selbstgemachte Müsliriegel und klasse Käsebrote. Und erst die bunten Säfte! Ein Labsal des Himmels! Als ich mich etwas abseits vom Verpflegungsbuffet im Schatten eines Baumes so langsam erhole, nähert sich mir ein etwas älterer Mitfahrer. Nach dem freundlichen gegenseitigen Erkunden des derzeitigen Befindens – klar, grandios heute alles – kommt er ziemlich schnell zur Sache:

 

„Sach mal, Du warst doch vorhin auch mit in der Gruppe, wo es so Aufregung gab?“

 

Ich blinzel ihn etwas unsicher an, mein Gesichtsausdruck macht auf Fragezeichen.

 

„Da war doch so eine unmögliche Fahrerin, die ganz fürchterlich rumgemotzt hat! Ich fahre ja schon seit vielen Jahren RTFs, aber sowas habe ich ja noch nie erlebt!“

 

Aha, das Gespräch scheint in die richtige Richtung zu gehen! Ich schildere kurz meine Sicht der Geschehnisse, bleibe aber - immer noch eingeschüchtert – ziemlich knapp und sachlich dabei. Darauf hin bekomme ich einen Kleinvortrag über den Sinn einer RTF. Nämlich unter anderem genau den, dass man hier das Fahren in der Gruppe lernen kann. Dass erfahrene Fahrer die Führung übernehmen und die nicht so erfahrenen sich möglichst viel abgucken. Außerdem wird niemand gezwungen, vorweg zu fahren, auch die motzige Dame nicht! Im Übrigen sei sie gar nicht selbst vorweg gefahren! Das sei ihr Kerl gewesen, der hat das aber eigentlich konditionell nicht drauf, deshalb musste seine Alte Stunk machen! Und all sowas hätte man ja wohl noch nie erlebt!

Uff, wenn ich jetzt noch erzähle, wie ich am letzten Kontrollpunkt von der „Alten“ ausgezählt wurde – das lass ich dann mal lieber. Mir reichts für heute!

 

Mein Weltverständnis ist auf alle Fälle wieder ein bisschen gerader gerichtet als ich erneut in die Pedale trete. Die letzten Kilometer – ein Klacks! Und das bei herrlichstem Wetter! Im Ziel gibt es reichlich Verpflegung. Ich zische mir ein alkoholfreies Erdinger und hocke mich zu irgendwelchen Fahrern an eine der Bierzeltgarnituren.

 

„Wie, ihr seid durchgefahren? Echt ohne Pause?“

„Joh, wenn der Chef sagt, wir fahren durch, dann fahren wir durch!“

 

Neben mir sitzt der Durchfahrer in seinem St. Pauli-Piraten-Dress und grinst, als wären knapp 160 km nicht mal was zum Warmfahren. Kurz danach erzählt er von seinen Teilnahmen an Paris-Roubaix. Ich bin ja schon stolz, dass ich seit kurzem weiß, was das überhaupt ist! Reinster Masochismus kilometerweit über gruseligstes Kopfsteinpflaster! Nächstes Thema: Die Rolle in die Sauna stellen und bei nahezu 100 Grad für Sahara-Etappen trainieren...

Mit den schönsten Erinnerungen an die Romantische Heidestraße versabschiede ich mich dann mal für heute.

 

 

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