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FROSTIGER FEHLSTART: Hamburg Cyclassics

Okay - was würde man denn wohl im Januar zu einem Radrennen standardmäßig anziehen? Egal was, ich besitze es nicht! Alles was mir heute helfen kann, ist ein langärmliges Windstopperoberteil und ein Paar Armlinge. Die Beine müssen hart im Nehmen sein, die Hände auch - mit meinen vorhandenen Fäustlingen, die ich sonst im Januar trage, kann ich wohl das Mountainbike, nicht aber das Rennrad schalten und bremsen. Hilft alles nix, bibbernd und auf dem Rücken den hässlichsten gesponserten Plastikbeutel ever fahre ich los mit dem Ziel Landungsbrücken. In dem Beutel sind warme Kleidungsstücke, in die ich mich halb totgefroren nach dem Rennen zu hüllen gedenke. Vielleicht werden im Ziel ja auch diese metallischen Wärmedecken verteilt. Während ich Bilder von völlig entkräfteten Menschen eingehüllt in Metalldecken im Kopf habe, wie es sie schon nach dem Haspa-Marathon im diesjährigen polaren April massenhaft gab, kündigen sich beidseitig Wadenkrämpfe an. Völlig neues Gefühl, auf dem Renner noch NIE gehabt! Aber wann bin ich auch schon mal bei solchen Temperaturen gefahren? Verdammt! Krämpfe! Schon bevor ich überhaupt meinen Startblock erreicht habe! Alles nicht wahr, oder? An den Landungsbrücken angekommen ziehe ich mir einen dieser ekligen Power-Riegel rein. Dazu noch alles was ich an Traubenzucker dabei habe. War eigentlich fürs Rennen gedacht, aber das hier ist ein Notfall! Schlotternd warte ich auf die Fähre, mit der mein Rennpartner gleich ankommt. Mit ihm steigen gleich mehrere Cyclassics-Teilnehmer aus. Wenig tröstlich: gemeinsam frieren ist nicht weniger erbärmlich als alleine zu frieren.

So machen wir uns auf zu unserem Startblock: G wie gaaaanz hinten! Ist gar nicht so einfach, da in der Innenstadt natürlich schon jede Menge Straßen gesperrt sind und man nicht unbedingt die direkteste Route fahren kann. So langsam wird die Zeit knapp. Angekommen in der Versorgungsmeile der nächste Schock! Es gibt KEINEN Kaffee! Du meine Güte, wie soll man denn da noch warm bleiben! Wo sind Glühwein und Grog? Verzweifelt stopfe ich mir im Hinblick auf meine drohenden Muskelkrämpfe mehrere Bananen rein. Mir ist jetzt schon schlecht!

Nach zig gefahrenen Schlenkern stehen wir endlich im richtigen Startblock. In der Kälte zu STEHEN ist eine ziemlich unlässige Angelegenheit. Und wenn man ganz großes Pech hat, steht man auch noch im Schatten. Alles versucht, in die Sonneninseln zwischen die Bäume zu drängeln! Und wir stehen lange! So lange, dass ich vergesse, dass ich rechts schon eingeklickt bin und irgendwann mitten in der Menge stumpf umfalle. Da wir alle dicht gedrängt stehen, kann sich wohl jeder den Domino-Effekt vorstellen, den das nach sich zieht! Herrje! Ist das PEINLICH! Ich rüttle den ganzen Startblock durcheinander! Eigentlich hätte ich ja Geschimpfe, Gepöbelt, wüstes Anschreien bis hin zu Morddrohungen erwartet. Aber nichts dergleichen passiert. Im Gegenteil, sofort strecken sich ganz viele Arme nach mir aus und ziehen mich samt meinem Rad wieder nach oben. Das beeindruckt mich zutiefst und ich weiß gar nicht, wie häufig ich verlegen Entschuldigung in alle Richtungen murmele. Ich bemerke, dass mein Sattel nicht mehr grade ausgerichtet ist. Auch das noch! Doch bevor ich das beheben kann, kommt plötzlich Bewegung in den Startblock. Es geht los! Stehenbleiben und am Sattel rumfummeln - zu spät.

 

So starte ich mein erstes Rennen: Völlig unterkühlt, OHNE Kaffee, mit zu vielen Bananen im Magen, mit einem schiefen Sattel und der großen Schmach, eben grade mehrere meiner Mitfahrer umgeschmissen zu haben. Leute, denn kann ja jetzt ECHT nix mehr schief gehen!

 

Geht es auch nicht! Ab jetzt läuft es wie geschmiert. Fahren kann ich! Das Drumherum üben wir noch mal!

Bis nach Wedel kommt mir alles vor, wie eine Spazierfahrt! Unglaublich, wie sehr das Feld einen mitzieht! In manchen Dörfern haben Familien Klapptischchen und Stühle in ihre Einfahrt gestellt, sitzen da rum und feuern uns an. Mich rührt das. Unter Brücken wird gejohlt, weil das so schön hallt, wenn das alle gleichzeitig machen. Die Strecke ist eben, große Abschnitte sind herrlich glatt asphaltiert. Die Sonne lacht vom Himmel, die Kälte spüre ich gar nicht mehr. Irgendwann bemerke ich, dass wir schon meine Hausstrecke fahren. Wir bewegen uns bereits wieder Richtung Innenstadt!  Bedeutet aber auch: Nicht mehr weit bis zum Kösterberg!

KÖSTERBERG - das Streckengespenst! Schnell nochmal trinken! Schnell nochmal in den letzten ekligen Power-Riegel beissen! Im Grotiusweg nochmal sammeln und ruhig atmen. Wie fühlen sich die Beine an? Lieber etwas drosseln oder mit Gebrüll drauf los? Schnell merke ich, die Entscheidung liegt gar nicht bei mir, sondern hängt davon ab, was der Rest des Feldes um mich herum tut. Der Großteil ist schon auf den ersten Metern Steigung so was von ausgebremst! Jetzt wirds gefährlich. Es stockt ganz abrupt, viele bleiben einfach stehen. Einige steigen ab und schieben. Leider klappt es nicht, dass links eine Überholspur durchgängig frei bleibt. Die ersten fangen an zu schreien und zu pöbeln, man solle links gefälligst frei machen. Vor mir fährt nebeneinander sehr weit links ein Paar. Er schiebt sie, fahrend den Arm um ihre Hüfte gelegt, förmlich den Berg hoch! UNMÖGLICH! Und gefährlich für alle anderen!

Zum Glück lichtet sich mit jedem Höhenmeter das Feld. Ich hänge mich hinter die Schreier, die den Weg frei machen. Irgendwie schaffe ich es, mich links vorbei zu mogeln ohne dabei weiter schlimm ausgebremst zu werden. Die zweite Steigung gehört schon wieder ganz mir und meinem Kampf mit laktatverseuchten Oberschenkeln.

Zack - vorbei das Streckengespenst! Und schon wird bergab gedonnert, rein nach Blankenese. Ab jetzt läuft es wie im Rausch: Sprinten über die Elbchaussee, Knallen über die Königsstraße und Rasen über die Reeperbahn. Wie geil, diese Straßen ohne Autoverkehr zu fahren! Hier, wo Du sonst niemals freiwillig fahren würdest, weil der Verkehrskollaps jede Freude daran erstickt! 

Die letzten Meter in die Innenstadt vergehen gefühlt wie in Sekunden. In der Mönckebergstraße ist es laut. Hunderte Zuschauer hauen mit ihren Händen auf die Bande links und rechts. Die Zieleinfahrt möchte man eigentlich sofort wiederholen! "Nochmal!", mag ich am liebsten schreien. Stattdessen rufen mir alle paar Meter die Ordner zu: "Weiterfahren! Weiterfahren! Bitte fahren sie alle weiter!"

" Ja, ja, ja, mach ich ja!" Wo es die Medaillen in die Hand gedrückt gibt, erkennt man an der Menschentraube, die sich dort bildet. Lauter gelöste und lachende Leute um mich rum! Die Medaille kann ich weder umhängen, noch in eine meiner Trikottaschen stecken, so eng ist das hier. Also baumelt sie erst mal am Lenker. Hat sich mein Renner ja auch irgendwie verdient, so brav wie er gelaufen ist! Hinter mir taucht mein Rennpartner auf. Das passt ja bestens! Also auf zum ersten Erdinger! Wann wird uns das jemals besser schmecken als jetzt und hier und heute!  Und denn wird erstmal der Sattel wieder grade gefummelt!

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